Wenn die Welt gesegnet wäre
Die junge Frau im dunkelgrünen Mantel verlässt das Haus. Die rote Bommelmütze hat sie tief in die Stirn gezogen und der dicke Schal reicht bis zur Nasenspitze. Den Kopf hält sie gesenkt. So betritt sie den verschneiten Gehweg. Zügig geht sie voran. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.
Sie ist noch keine fünf Minuten unterwegs, da schallt ihr ein mehrstimmiges „Guten Morgen“ entgegen. Ihr Kopf zuckt hoch. Sie erwidert den Gruß mit Verzögerung. Geht weiter. Gleich darauf trifft sie ein Schneeball am linken Arm. „Tschuldigung“, tönt es von links unten zu ihr hoch. „Ich kann noch nicht gut zielen“, sagt der Knirps, der ihr höchstens bis zum Bauchnabel geht. Sie schüttelt den Kopf. „Schon gut“, brummt sie, „ist ja nichts passiert“.
Ein paar Meter weiter drückt ihr ein junges Mädchen einen kleinen Mistelzweig in die Hand. „Für dich, du siehst aus, als ob du ein wenig Freude brauchen könntest“, lacht sie und rennt weiter.
Langsam schleicht sich ein kleines Lächeln auf das Gesicht der jungen Frau. Man muss schon sehr genau hinschauen, um es zu erkennen. Inzwischen hat sie den Kopf erhoben und schaut, wohin sie läuft. Sie entdeckt an der nächsten Hausecke eine Kletterrose. Drei gelbe Rosenblüten tragen weiße Schneehäubchen. Kurz bleibt sie stehen, um die Rosen genauer zu betrachten. Plötzlich hört sie „Oh du fröhliche“. Drüben über der Straße steht ein Kinderchor und singt. Eine alte Frau läuft am Arm eines Mannes vorsichtig über die Straße und drückt der Chorleiterin eine Tafel Schokolade in die Hand. „Fröhliche Weihnachten“ rufen sich eine Gruppe Männer und Frauen zu, bevor sie in verschiedenen Richtungen auseinandergehen.
Die Frau mit der Bommelmütze steckt noch einmal ihre Nase in eine der Rosenblüten. Schneekristalle bleiben an ihrer Nasenspitze hängen. Sie will sie gerade wegwischen, da sagt eine Stimme hinter ihr: „Lass es, das sieht sehr hübsch aus.“
Sie dreht sich um. Vor ihr steht der junge Mann, den sie seit mehreren Wochen auf dem Weg zur Arbeit täglich trifft. Bislang hat er sie leider noch nie wahrgenommen. „Guten Morgen“, sagt sie. Röte steigt ihr ins Gesicht. Er grinst. „Lass uns den Rest des Weges zusammengehen, wir haben noch ein großes Stück gemeinsam“. Sie sieht ihn an. Zieht die Nase kraus. „Woher weißt du das?“
Er scharrt mit dem Fuß im Schnee. „Ich sehe dich seit Wochen jeden Tag. Aber bisher habe ich mich nie getraut, dich anzusprechen“.
„Ach, du auch nicht“, antwortet sie. Ohne ein weiteres Wort gehen sie nebeneinander weiter. Passen ihre Schritte einander an.
Licht umgibt sie. Es funkelt blassblau. Wirft kleine Punkte in den Schnee. Eine blaue Spur erscheint dort. Unabgesprochen folgen sie ihr. Sie laufen. Lang. Still. Weit.
Vor den Toren der Stadt endet die blaue Spur an einer windschiefen Hütte. Die beiden schauen sich an. „Mach du“, sagt sie und tritt hinter ihn. Er öffnet die Tür. Wärme strömt heraus. „Willkommen“, tönt es aus dem Halbdunkel. Er nimmt ihre Hand. Zieht sie dicht neben sich. Zwei, drei Schritte noch, dann stehen sie an einer Krippe. Sie ist leer.
„Nehmt Platz und gebt mir eure Last, ich helfe euch tragen“. Die Stimme kommt von oben. Sie schauen zum Dach. Ein Stern blitzt herein. Es ist, als ob er ihnen zuzwinkert. Sie nehmen Platz neben der Krippe. Sitzen beieinander. Im Licht des Sterns.
„Jetzt geht und seid ein Segen“, flüstert es um sie herum.
Wortlos stehen sie auf, verlassen die Hütte, gehen Richtung Stadt. „Gesegnete Weihnachten“, rufen sie dem alten Mann zu, der ihnen mit gesenktem Kopf entgegenschlurft, „Gesegnete Weihnachten“.
Im Weitergehen dreht sie sich nach ihm um. Sie sieht, dass der Alte den Kopf gehoben hat. Schaut, wohin er läuft. Eine blassblaue Spur erscheint vor den Füßen des Alten.
Sie stupst ihren Begleiter an. „Sieh“, sagt sie leise und er sieht.
Wie wäre die Welt für Dich, wenn sie gesegnet wäre? © Judith Manok-Grundler, Dezember 2018 (Adventbegleiter 2018) Foto: Erwin Grundler, Überlingen-Aufkirch
sehr schön. und inspirierend. danke.
Liebe Esther,
Das ist ja schön, hier von Dir zu lesen.
Freut mich, dass Dir der Beitrag gefällt. Wird es jetzt einfacher für Dich, Dich mit der Aufgabe zu befassen?
Freue mich, wenn ich Dich auch weiterhin hier treffe.
Schönen Abend noch und herzliche Grüße
Judith