Das Leben draußen

Samstag. Ich bin allein. Liege mit hochgelegtem Bein und einer Eispackung ums Knie auf dem Sofa. Das ist ein Fortschritt. Letzten Sonntag lag ich noch im Bett. Das war nicht besonders tragisch, war es doch der erste richtige Herbsttag. Grau und unwirtlich. Ich machte es mir im Bett gemütlich.
Heute sieht das anders aus. Ich wäre gern draußen. Nachdem sich der Nebel aufgelöst hat, strahlt die Sonne vom Himmel. Es ist warm. Ein wunderbarer Altweibersommertag. Wer irgendwie kann, geht nach draußen. Das Wetter genießen. Wer weiß, wie lange es noch so bleibt. Ich ginge auch gern hinaus. Es geht noch nicht. So bleibt mir nur, mir vorzustellen, wie es draußen wohl ist.
Dass der See voller Segelschiffe ist, kann ich von hier aus sehen. Die Promenade wird voll sein. Unzählige Menschen werden in jede Richtung unterwegs sein. Manche schlendernd. Andere eilend. Sie weichen Fotografierenden aus oder denen, die auf ein Schwätzchen zusammen stehen. Dazwischen Radfahrer. Verbotenerweise. Kinderwagen auch. Kinder, die sich an ersten Schritten erproben, freudig die ersten glänzenden Kastanien sammeln oder auf Rollern durch die Menge flitzen.
Der Wind wird das blaugrüne Wasser aussehen lassen wie Krepppapier. Schwäne werden still ihre Bahnen ziehen. Möwen, Tauben und Enten nach Futter gieren. Haubentaucher und Blesshühner ihr Revier verteidigen. Die Ausflugsschiffe werden Passagiere ein- und aussteigen lassen und vor der nahen Eisdiele wird sich eine lange, zweireihige Schlange bis auf die Straße hinaus winden. Die Treppe am Landungsplatz wird mit Sonnen-, Eis- und Pizzahungrigen besetzt sein. In den Cafés werden freie Stühle Mangelware sein. Sonnenbebrillte Gesichter werden sich hungrig der Sonne zuwenden. Auf den Tischen finden sich Kaffee und Kuchen. Oder Saft. Oder Bier. Oder Wein. Oder ein Cocktail. Oder ein spätes Mittagessen. Vielleicht auch ein frühes Abendessen. An den Tischen lachende, fröhliche Menschen. Es wird auch diejenigen geben, die sich anschweigen. Manche werden so ineinander versunken sein, dass sie die Welt um sich herum nicht wahrnehmen.
Es wird laut sein. Bunt. Heiter. Beschwingt. Ausgelassen. Fröhlich. Lebendig. Ein Lebensfest.
Ich bin allein. Liege auf dem Sofa. Wäre gerne draußen. Bin es nicht und doch: Es ist mir, als wäre ich mittendrin. Ich kann das Leben draußen in mir spüren.
Wie gut, dass Fantasie und Vorstellungskraft zu meinen Schätzen gehören.

(© Judith Manok-Grundler, 01.10.2016)

 

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  1. […] Texte, die ich am 5. Oktober 2016 veröffentlicht habe, will ich heute noch einmal hier vorstellen. https://mutigerleben.wordpress.com/2016/10/05/das-leben-draussen/ Weshalb? Weil Fantasie und Vorstellungskraft immer noch zu meinen Schätzen gehören und mein Leben […]

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