Am Gartenteich

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„Guten Morgen“, sagt der Zwerg zum Fisch und beugt sich unter den Weidenzweigen über das Wasser. „Schöner Tag heute. Was machst du so?“
Der Fisch schweigt. Zieht seine Runden. Immer dieselbe Bahn.
„Schwimm doch mal in die andere Richtung“, schlägt der Zwerg ihm vor, nachdem er ihn eine Weile beobachtet hat.
„Wozu soll das gut sein?“, blubbert der Fisch empört.
„Na, weil ein Richtungswechsel den Blick auf das Leben und die Welt verändert!“
„Brauche ich nicht. Neumodischer Firlefanz“, regt sich der Fisch auf. „Am Besten bleibt alles so, wie es schon immer war. Und jetzt lass mich in Ruhe.“ Der Fisch presst die Kiemen aufeinander.

Der Zwerg seufzt. Vor einem Jahr hat ihn der Chef auf Reisen geschickt; er soll bei Menschen und Tieren Lust auf Neues wecken und ihnen zeigen, dass das Leben mehr beinhaltet, als sie kennen. „Noch einer, der nur am Alten festhält.“ Er legt sich auf den Rücken. Seufzt. „Ich weiß nicht, was ich noch machen soll. Am Besten gehe ich zurück und sage dem Chef, dass ich gescheitert bin!“

Da hört er plötzlich ein Rascheln neben sich. Ein Zwergenkind mit einer grünen Mütze taucht unter der Baumwurzel auf. Legt sich neben ihn. Schaut ihn an. Schenkt ihm ein Lächeln. Und dann erzählt es von der Sonne, deren Strahlen die Blütenblätter der Ringelblume streicheln und Lichtflecken in den Tag malen. Es spricht vom Wind, der sanft wie der Großmutter Hand, über Zweige und Blätter fährt, sie tanzen lässt und Kühle bringt, wo sie notwendig ist. Der Kleine spricht von Schmetterlingen und Bienen, die sich am Mirabellenbaum zum Stelldichein treffen. Er summt ein Lied für den leuchtend grünen Zitronenthymian und den lila Lavendel und lässt unzählige Düfte aufsteigen, die sich über den Teich legen. Er spricht von den Geheimnissen der  Melisse und der Minze. Vom Rotmilan, auf dessen Rücken er einen Rundflug machen durfte. Er redet von Musik und vom Lachen, von der Stille und der heiteren Freude. Und er malt mit Worten ein farbenprächtiges Bild, das jedem Regenbogen Ehre macht.

Der Zwerg lauscht. Riecht. Sieht. Spürt. Vor allem spürt er. Des Lebens Fülle, die mit jedem Herzschlag durch seinen Körper fließt und ihn mit Lebendigkeit und Hoffnung erfüllt. Er setzt sich auf. „Danke“, sagt er zum Zwergenkind. „Du bist ein Schatz!“

Das Zwergenkind schweigt. Es lächelt und zeigt mit dem Finger zum Teich. Der Goldfisch schwimmt. Kreuz und quer – und entdeckt das Leben.

Foto: Judith Manok-Grundler, Überlingen-Aufkirch
2 Kommentare
  1. mutigerleben
    mutigerleben sagte:

    Liebe Heidi,
    schön, von dir zu hören. Hoffe, du hattest einen Sommer, der Erinnerungen geschaffen hat.
    Dieser Gartenteich hat mich inspiriert. „Geheimnisvoll“ war das Stichwort, das mir einfiel und so entstand ganz spontan diese kleine Geschichte. Ich finde sie auch toll.
    Abendgrüße
    Judith

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