Gespräch mit dem Engel des Übermuts
„He Du“, tönt es neben Regine. Sie schreckt hoch. Reißt sich von ihrem Krimi los. Dreht den Kopf nach der Stimme. Links neben ihr hockt ein Mädchen. Es baumelt mit den braunen Beinen, stemmt die Hände in die Hüften und blitzt Regine an.
„Grüß Gott“, sagt Regine.
„Das kann ich nicht, sie ist gerade nicht da.“ Das Mädchen lacht. Lacht so, dass alles an ihr hüpft und bebt.
„Äh, was meinst Du?“
Das Mädchen haut Regine auf den Schenkel, grinst und antwortet: „Na, Gott grüßen, halt. Sie ist nicht da. In drei Tagen kommt sie aus dem Urlaub zurück, dann richte ich ihr Deine Grüße aus“.
„Gott geht in Urlaub? Wo ist sie denn?“
„Das ist doch ganz egal. Was machst Du dir denn Gedanken über Gottes Urlaub? Schlag lieber ein Rad auf der bunten Blumenwiese vor Dir!“ Das Mädchen schaut Regine an.
„Ein Rad schlagen? Ich? Das kann ich nicht mehr. Das habe ich bestimmt 35 Jahre nicht mehr gemacht“, gibt Regine zurück.
„Stell dich nicht an. Dann mach meinetwegen einen Purzelbaum, einen Hand- oder Kopfstand, hüpf auf einem Bein oder renn fliegend über die Wiese.“
Regine schaut kopfschüttelnd zu dem Mädchen hinüber. Dessen Augen glänzen, Sommersprossen tanzen über Nase und Wangen, die roten Haare fliegen, als die Kleine ebenfalls den Kopf schüttelt. „Wie alt bist Du? 303 oder was?“, kichert sie und hüpft von der Bank. Sie dreht sich wie ein Kreisel. Der Rock des gelben Kleides tanzt um ihre Beine. „Los, steh auf und mach mit!“
Regine bleibt sitzen. Sie verschränkt die Arme vor der Brust. „Sag Du mir erst mal, wer Du bist. Dann können wir weiterreden.“
„Du bist langweilig“, gibt die Kleine zurück. „Ich dachte mir schon, dass Du mich nicht erkennst. Ich bin der Engel des Übermuts“.
„Der Engel des Übermuts? <Übermut tut selten gut> hat meine Mama immer zu mir gesagt, wenn ich neben ihr her hüpfte, statt anständig zu gehen“.
„Papperlapapp“. Der Engel des Übermuts kneift die Augen zusammen und presst die Lippen aufeinander. „So ein Unsinn. Übermut heißt, dass Du über Mut verfügst. Über den Mut zur Ausgelassenheit, zur Heiterkeit, zur Fröhlichkeit. Übermut heißt, dass Du leicht Leben kannst. Dass Du das Leben genießen kannst. Dass Du Dich freuen und begeistern kannst. Dass Du damit andere anstecken kannst …“
„Aber“, unterbricht Regine den Engel, „aber das geht doch nicht. Wo bleibt denn da der <Ernst des Lebens>?“
Der Engel des Übermuts kichert: „Du meinst den kleinen, pummeligen, bärbeißigen Alten mit dem Gamsbarthut zum dunkelgrauen Anzug? Den, der immer so würdig und von sich überzeugt daher kommt?“
Regine schaut den Engel an. Entgeistert. Dann beginnt sie zu lachen. Zuerst hört sich das an wie eine heisere Flöte. Dann werden die Töne klarer. Wie Seifenblasen perlen sie in die Luft. Immer mehr. Steigen hoch. Fliegen dahin. Zerplatzen. Sinken zu Boden, bleiben liegen, werden leiser, verklingen.
„Na bitte, geht doch!“ Der Engel des Übermuts klatscht in die Hände. „Von heute an übst Du jeden Tag den Übermut, versprochen?“
„Ich weiß nicht, ob ich das kann“. Regine sieht den Engel an.
„Klar“, sagt dieser voll Überzeugung. „Und falls nicht, rufst Du mich zu Hilfe. Darf ich Dich daran erinnern, dass Du das früher richtig gut konntest?“
„Wenn Du das sagst“. Regine grinst. Sie rutscht von der Bank. Schlägt – mehr schlecht als recht – ein Rad, schließt eine Rolle vorwärts an und hüpft auf einem Bein davon. (18.07.18)
Wie würde Dein Gespräch mit dem Engel des Übermuts lauten? Fotos: Erwin Grundler, Überlingen-Aufkirch
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