„Gedrehte Perspektive“
Auch in diesem Jahr schreibe ich beim „Online-Schreibexperiment in der Fastenzeit“ von Susanne Niemeyer mit (https://www.freudenwort.de/online-schreibexperiment). Eine der Aufgaben lautete, die Perspektive umzudrehen und darüber zu schreiben, was eine (vorher benannte) Möglichkeit mit mir machen würde. Dabei schrieb ich aus der Perspektive einer Osterglocke über mich. Die Osterglocke spricht in der ICH-Form.
„Ich fühle mich beobachtet. Gerade erst habe ich genügend Mut entwickelt, um – trotz der empfindlich kalten Nächte – meine Knospe wenigstens ein wenig zu öffnen und jetzt das. Die Frau schaut mich an. Unverwandt. Nur mich. Dabei wären da noch mehr von uns. Was sie wohl will? Ob ich sie fragen soll? So recht traue ich mich nicht.
Sie hört nicht auf zu schauen. Kommt mit ihrem Kopf näher. Noch näher. Beugt sich zu mir herunter. Groß ist sie. Was macht sie denn jetzt? Ich glaube, ich frage sie doch.
<Psst, hörst Du mich?>
Nichts. Sie guckt weiter. Ganz still. <Du, hörst Du mich?> Ich frage lauter.
Sie reißt die Augen auf. <Meinst Du mich>?
<Natürlich, oder ist außer Dir noch jemand hier?> gebe ich zurück.
Sie schaut sich um. <Nein> antwortet sie.
<Sag mal>, sage ich nach einer Weile, <Du siehst aus, als ob Du schon eine ganze Weile auf der Erde wärst. Wie ist das Leben da draußen denn>?
Sie schweigt. Schaut mich an. Schaut über den See. Schaut zum Himmel. Schaut zu mir. Sieht mich.
<Das Leben ist schön und bisweilen trägt es eine hässliche Fratze. Es ist unendlich bunt und manchmal trist und düster. Es ist wie ein ruhiger, träger Fluss und manchmal aufgewühlt und aufregend wie Wildwasser. Manchmal fühlt es sich leicht an; ganz leicht. So leicht, wie eine Feder und ein anderes Mal ist es mühsam und schwer wie ein steiler Anstieg. Das Leben ist…>
<Das hört sich anstrengend an> unterbreche ich sie und frage: <Lohnt es sich denn, dass ich mich ganz öffne?>
<Ja>, sie lächelt, <ja, es lohnt sich auf jeden Fall>.
<Und Du>, will ich wissen, <bist Du schon völlig geöffnet>?
Ihr Lächeln verhuscht. Kommt zurück. Ganz langsam. Überzieht ihr Gesicht. Es leuchtet.
<Das, mein liebes, ist eine gute Frage>, erwidert sie. <Ich danke Dir. Lass es Dir gut gehen. Morgen komme ich wieder und schaue nach Dir.> Sie dreht sich um und geht.
<Bis Morgen>, rufe ich leise und öffne meine Knospe ein Stückchen mehr“.
Was denkst Du: Lohnt es sich, sich zu öffnen für das Leben?
Fotos: Erwin Grundler, Überlingen-Aufkirch
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